Auf einem weißen Bildträger ist ein Reifenstück, quadratisch mit derbem gesägten Rand aufgeschraubt mittels Linsenkopfschraube und Unterlagsscheibe mittig.
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Von vermenschelnden Fahrrädern und verfahrradelnden Menschen

Es dürfte nicht hinlänglich bekannt sein, dass Menschen, die oft Fahrrad fahren ihrem Fahrrad immer ähnlicher werden, wie auch die Fahrräder, die diese Menschen benutzen, nach und nach menschliche Eigenschaften annehmen. Es soll vorgekommen sein, dass manche Fahrräder – sehr alte, viel benutzte, solche, die von Weltumradlenden benutzt werden – ein Eigenleben entwickelten und sich aus eigenem Willen und eigener Kraft bewegen. Wie es auch Menschen gibt, deren Habitus an den eines Fahrrads erinnert, wenn sie etwa mit dem Ellenbogen gestützt an eine Wand in einer Kneipe lehnen. Eigentlich die gleiche Haltung eben, die ein Fahrrad hat, wenn man es mit dem Lenker an eine Wand lehnt.

In einer blauen, geöffneten Schmuckschachtel liegt ein Kettengleid einer rostigen Fahrradkette. Im Deckel der Schachtel klebt ein Zettel mit Signarur und Nummerierung.
Die Glieder dieser Fahrradkette brachten den Blogger und Künstler einmal rund um die Nordsee.

Die Molekültheorie des Fahrrads wurde von einem irischen Wissenschaftler namens de Selby entwickelt, nachzulesen in dem Roman ‚Der dritte Polizist‚ und in ‚Dalkeys Archiven‚ des Autors Flann O’Brian (Brian O’Nolan).

Ich bin einer dieser Menschen, die sehr viel Fahrrad fuhren und noch immer fahren. Der Molekültheorie zu Folge müsste im Laufe der vielen Kilometer, die ich zwischen Nordkap und Gibraltar, rund um zahlreiche Länder, rund um die Nordsee, den Rhein abwärts und im ganz normalen Alltag zurück legte, ein Gutteil meiner eigenen Atome durch den Sattel, den Lenker und die Pedale in mein Fahrrad gewandert sein, wie im Gegenzug die Atome meines Fahrrads in meinen Körper wanderten. Halb Mensch halb Fahrrad. Kaum noch auszumachen, wer nun ich und was nun mein Fahrrad ist?

Was Flann O’Brian in seinem Roman der Dritte Polizist auf humorvolle Weise ausbreitete, habe ich in den letzten Jahrzehnten quasi im Selbstversuch getestet und komme zu dem Schluss, es stimmt wohl bedingt. Ich werde meinem Fahrrad immer ähnlicher.

Auf einem gelben Bildträger ist ein Reifenstück, quadratisch mit derbem gesägten Rand aufgeschraubt mittels Linsenkopfschraube und Unterlagsscheibe mittig.
Der Reifen wurde für mehrere Radtouren benutzt. Unter anderem 2015 zum Nordkap, aber auch 2016 nach Gibraltar und den Rhein abwärts.

Reliquien eines Europenners, diskutierte ich vor einiger Zeit mit meinem Künstlerkollegen Buchalov. „Das ist wohl ein bisschen aus der Luft gegriffen, wenn du deine alten Fahrradreifen und die Kettenstücke als Reliquien deklarierst“, erklärte mir Buchalov. Reliquien sind religiöse Artefakte aus den Körpern der Heiligen. Finger, Zehen, Knochen und so weiter, aber keine Gegenstände. Schon kam ich mir ein bisschen vermessen vor, wenn auch das ganze Projekt, die alten Fahrradreifen in Stücke zu schneiden und die Ketten aufzugliedern und in Schmuckschatullen zu packen und somit eine kleine Serie von sogenannten Künstlerreliquien zu generieren, ein Griff in den Selbstironiebaukasten war. Mit dem ernsthaften Hintergrund, was ist, wenn dieser Noch-Noname-Artist, der nur in kleinen exklusiven Kreisen bekannt ist, dieser Europenner, Weltenbummler, Alltagsblogger, wenn also ich doch irgendwann bekannt werden würde. Dann wären natürlich diese Artefakte ruckzuck eine kostbare Geldanlage, versteigerungswürdig wie das Schnüffeltuch von Michael Jackson und die Unterhose von Marilyn Monroe und Buddy Hollys Brille.

Mir persönlich, als im Jetzt lebender Glückssucher und -finder kann es im Prinzip egal sein. In diesem Shop handele ich nur. Und zwar in zweierlei Sinn: handeln mit meinen Kunstprodukten und vor allem handeln, indem ich die Ideen und Gedanken, die mir durch den Kopf spuken umsetze und sie in Materie verwandele. Mal todernst, mal, so wie bei den Reliquien eines Europenners mit einem verschmitzten Lächeln zwischen den Hirnwindungen.

Schon vor einigen Jahren habe ich den Hinterreifen, der mich etwa 7000 Kilometer rund um die Nordsee begleitete, in Kunstwerke verwandelt, sowie auch denjenigen, mit dem ich zum Nordkap und Gibraltar radelte und ein Stück Kette. Und bei diesen Reliquien soll es auch bleiben. So brilliant ist die Ideen nun auch nicht, dass ich mein Radel-Ich in Stücke schneiden müsste und als eigene Kunstlinie laufen lassen könnte.

 

 

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